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18.10.2017

BGH zur ergänzenden Testamentsauslegung bei späterem Vermögenserwerb

Der Bundesgerichtshof hatte sich in seiner Entscheidung vom 12.07.17 (IV ZB 15/16) mit der Auslegung eines sog. Verteilungstestaments zu befassen, das – wie so oft, wenn von juristischen Laien formuliert – keine ausdrückliche Erbeinsetzung, sondern nur die Zuwendung einzelner Gegenstände enthielt.

Die Besonderheit des entschiedenen Falls lag darin, dass die Erblasserin mehrere Jahre nach der Errichtung ihres Testaments selbst vollkommen unerwartet erhebliches Vermögen geerbt hatte.

Der zugrundeliegende Sachverhalt (verkürzt):

Die Erblasserin hatte ein privatschriftliches Testament mit folgendem Wortlaut (verkürzt) errichtet:

"Mein letzter Wille
Für den Fall meines Todes verfüge ich:
1) Haus- und Grundbesitz in ... incl. der gesamten Einrichtung sollen … [dem Lebensgefährten] bis an sein Lebensende zur eigenen Nutzung zur Verfügung stehen. Er ist verpflichtet den gesamten Besitz zu pflegen, ausreichend zu versichern und erforderliche Reparaturen zu veranlassen.
2) Nach dem Ableben … [des LGef.] geht das gesamte Objekt an … [die Großnichte] über.
3) Eventuell noch vorhandenes Bar- oder Anlagevermögen sollen für meine Beerdigung und die Grabpflege ... eingesetzt werden.
4) Meinen Schmuck soll [die Schwägerin] erhalten. (...)"

Acht Jahre nach Errichtung dieses Testaments und nur wenige Monate vor ihrem eigenen Tode beerbte die Erblasserin einen Kriegskameraden ihres Vaters, der sie zur Alleinerbin eingesetzt und ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen hatte.

Der Bruder der Erblasserin beantragte einen Allein-Erbschein als gesetzlicher Erbe, die Großnichte einen Allein-Erbschein als testamentarische Erbin.

Rechtlicher Hintergrund – Ziel der Testamentsauslegung

Wenn ein Erblasser in seinem privatschriftlichen Testament nicht ausdrücklich einen Erben einsetzt, sondern lediglich einzelne Vermögensgegenstände auf eine oder mehrere Personen verteilt (sog. "Verteilungstestament"; z.B. „Mein Sparkonto geht an..., mein übriges Geld erhält..., meine Immobilie soll … bekommen“), dann muss durch Auslegung ermittelt werden, ob der Erblasser mit seinem Testament einen (oder mehrere) Erben einsetzen oder nur Vermächtnisse anordnen wollte und i.Ü. die gesetzliche Erbfolge eintreten sollte.

Ziel der Testamentsauslegung ist es zu klären, was der Testator mit seinen  Worten sagen, welchen „letzten Willen“ im Rechtssinne er also erklären wollte.
Dabei ist im Wege (einfacher) erläuternder Auslegung der tatsächliche Wille des Erblassers nach Wortlaut oder spezifischem Sprachgebrauch zu ermitteln.
Lässt sich ein solcher nicht erkennen, muss sodann der mutmaßliche Wille des Erblassers erforscht werden. Das ist der wirkliche Wille, den der Erblasser mutmaßlich gehabt hat.

Hiervon streng zu trennen ist die Ermittlung des hypothetischen Willens im Rahmen der ergänzenden Auslegung, die nur dann zulässig ist, wenn ein Testament eine unbewusste, planwidrige Lücke enthält, die entstanden ist, weil dem Testator ein für seine Willensbildung bedeutsamer Umstand unbekannt war.
Unerheblich ist, ob der Umstand bei Testamentserrichtung bereits vorhanden war oder erst danach entstanden ist.

Zur Klarstellung: Die ergänzende Auslegung fragt nicht nach einem späteren Erblasserwillen, sondern nach dem Willen, den der Erblasser im Zeitpunkt der Testamentserrichtung gehabt hätte, hätte er den betreffenden Umstand bedacht.

Die Entscheidung des BGH - IV ZB 15/16:

Mit seinem Beschluss hob der BGH die Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 05.08.16 (ZEV 2017, 143 = FamRZ 2017, 485; Entscheidung besprochen von Roth, NJW-Spezial 2016, 711, und hier von B. Klinger, NDEEX/Erbrecht Aktuell vom 16.12.16) auf.

Das OLG hatte zunächst die Zuwendung des Grundstücks (wesentlicher Nachlassgegenstand bei Testamentserrichtung) als Alleinerbeinsetzung ausgelegt, dann aber wegen des nachträglichen Vermögenserwerbs Anlass zu einer ergänzenden Auslegung gesehen, die dazu führte, dass die „durch Einzelzuwendung getroffene Einsetzung zum Alleinerben nunmehr als Teilerbeinsetzung“ anzusehen sei. 

Der BGH erteilte dieser Auffassung eine klare Absage und bekräftigte seine frühere Rechtsprechung: Steht der im Wege erläuternder Auslegung ermittelte Erblasserwille fest, kann von ihm nicht mehr im Wege ergänzender Auslegung abgewichen werden.

Leitsatz:

"Wenn der Erblasser durch letztwillige Zuwendung einer Sachgesamtheit den Nachlass erschöpfen und gleichzeitig einen Bedachten zum Alleinerben einsetzen wollte, ist im Einzelfall zu prüfen, ob die durch Auslegung ermittelte Erbeinsetzung nach dem Regelungsplan des Erblassers auch einen nachfolgenden, unvorhergesehenen Vermögenserwerb erfassen sollte."

Essenz der Entscheidung:

1. Die Zuwendung eines wertmäßigen Hauptnachlassgegenstands, etwa eines Hausgrundstücks, ist in der Regel als Erbeinsetzung des Bedachten anzusehen, wenn der Nachlass dadurch im Wesentlichen erschöpft wird oder der objektive Wert das übrige Vermögen an Wert so erheblich übertrifft, dass der Erblasser ihn als seinen wesentlichen Nachlass angesehen hat.

2. Ausnahmsweise kann eine von diesen Grundsätzen anderslautende Testamentsauslegung geboten sein.

3. Ergibt die einfache Auslegung, dass der Erblasser durch Zuwendung einer Sachgesamtheit den Nachlass erschöpfen und gleichzeitig einen Bedachten zum Alleinerben einsetzen wollte, dann kann im Einzelfall zu prüfen sein, ob die durch Auslegung ermittelte Erbeinsetzung nach dem Regelungsplan des Erblassers auch einen nachfolgenden, unvorhergesehenen Vermögenserwerb erfassen sollte.
Der nachträgliche Vermögenserwerb vermag aber an einer angenommenen, "ursprünglichen" Erbeinsetzung selbst nichts mehr zu ändern, da für die (nicht ergänzende) Auslegung nur der bei Testamentserrichtung vorhandene Wille des Erblassers maßgeblich ist.

4. Die ergänzende Testamentsauslegung ist jedoch bei einer nachträglichen Umstandsänderung (nachträgliche Lücke) - wie einem unerwarteten Vermögenserwerb - dann eröffnet, wenn die letztwillige Verfügung des Erblassers bei wertender Gesamtbetrachtung aller Umstände und der vom Erblasser zur Zeit der Testamentserrichtung verfolgten Ziele (Regelungsplan) eine planwidrige Regelungslücke aufweist und ein hypothetischer Wille des Erblassers ermittelt werden kann, anhand dessen die vorhandene Lücke geschlossen werden kann.

5. Ein hypothetischer Erblasserwille darf nur unterstellt werden, wenn er auf eine bestimmte, durch Auslegung der letztwilligen Verfügung erkennbare Willensrichtung des Erblassers zurückgeführt werden kann.
Lässt sich ein solcher Wille nicht feststellen, dann verbleibt es trotz vorhandener Regelungslücke bei dem bisherigen Auslegungsergebnis.

 

Dringende Empfehlung von Fachanwalt für Erbrecht Ingo Lahn, Hilden:

Der besprochene Fall zeigt wieder einmal, wie wichtig es ist, ein Testament präzise und mit den richtigen erbrechtlichen Fachbegriffen zu formulieren.
Leider fehlt in weiten Teilen der Bevölkerung jedoch - das zeigen die Erlebnisse und Ergebnisse der täglichen Erbrechtspraxis - jegliches Problembewusstsein.

Stellen Sie sicher, dass Ihr "letzter Wille" auch das letzte Wort bleibt, nicht erst Juristen durch die Instanzen über Ihren vermeintlichen Willen streiten müssen und nicht wertvolle Resourcen an Zeit, Nerven und Geld unnötig verbrannt werden!

Versichern Sie sich bei der Erstellung Ihres Testaments unbedingt der fachlichen Unterstützung durch eine Fachanwältin / einen Fachanwalt für Erbrecht oder einer Notarin / eines Notars!


Ausblick:

Nachdem der BGH die Sache zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen hat, erscheint es nicht abwegig, dass das OLG nach weiteren Ermittlungen sogar zu der gänzlich anderen Auslegung gelangt, dass der Lebensgefährte als Vorerbe und die Großnichte als Nacherbin anzusehen ist.

Jedenfalls wird in nächster Zeit immer noch nicht feststehen, wer Erbe nach der Erblasserin geworden ist.
Typischerweise wird bei derartigen Sachverhalten, in denen der Erbe unbekannt ist, Nachlasspflegschaft zur Sicherung des Nachlasses angeordnet (ob dies im entschiedenen Fall auch so ist, ließ sich den Entscheidungsgründen nicht entnehmen).
Der von Gericht bestellte (regelmäßig berufsmäßig tätige) Nachlasspfleger nimmt dann den Nachlass in Besitz und verwaltet ihn. Hierfür erhält er eine Vergütung, die der Erbe schuldet.

Auch diese Kostenposition ist bei einem eindeutig formulierten Testament vermeidbar.



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