nach oben
07.10.2017
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte hebt Diskriminierung nichtehelicher Kinder auf

Neue Erbchancen für "alte" nichteheliche Kinder

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Deutschland erneut wegen einer Diskriminierung nichtehelicher Kinder im Erbrecht verurteilt. Die Straßburger Richter gaben am 09.02.2017 einer Frau Recht, der Ansprüche am Erbe ihres Vaters verwehrt worden waren (Az.: 29762/10).

Rechtslage

Nach dem deutschen Erbrecht sind uneheliche und eheliche Kinder bei Erbfälle nach dem 01.04.1998 aufgrund des Inkrafttretens des Gesetzes zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder (ErbGleichG) gleich zu behandeln. Ausgenommen sind vor dem 01.07.1949 geborene nichteheliche Kinder. Für diese verblieb es zunächst auch nach dem Inkrafttreten des ErbGleichG dabei, dass diese gegenüber ihrem Vater und dieser ihnen gegenüber nicht erb- und pflichtteilsberechtigt waren.

Das deutsche Recht versagt nach seinem Wortlaut den vor dem 1.7.1949 geborenen nichtehelichen Kindern weiterhin erbrechtliche Ansprüche nach ihrem Vater, wenn sich der Erbfall vor dem 29.5.2009 ereignet hat. Diese Ungleichbehandlung wurde durch das Zweite Gesetz zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder vom 12.04.2011 (BGBl I, 615) aufgehoben.

Auch diese Neuregelung gilt jedoch nur für Erbfälle, die sich nach dem 29.05.2009 ereignet haben. Bei Erbfällen vor dem 29.05.2009 blieb es nach der Rechtsprechung des BGH bei der alten Rechtslage.

Bisherige Rechtsprechung des BGH

Der Bundesgerichtshof (Urteil vom 26. Oktober 2011, Az.: IV ZR 150/10) hat in der Vergangenheit die Auffassung vertreten, dass nichteheliche Kinder bei Erbfällen vor dem 29.05.2009 keinen Erbanspruch haben, da das geschützte Vertrauen von Erblassern und den bisherigen Erben eine entscheidende Bedeutung zukommt. Daher sei es gerechtfertigt, wenn vor dem 1. Juli 1949 nichtehelich geborene Kinder vom Erbe des Vaters ausgeschlossen seien.

Urteil des EGMR vom 9.2.2017 (Rs Mitzinger gegen Deutschland)

Im Urteil des EGMR vom 9.2.2017 ging es um die Erbansprüche einer Frau, die 1940 als nichteheliches Kind geboren worden war. Ihr Vater hatte sie als seine Tochter anerkannt und auch regelmäßig Kontakt gehabt. Der Erbfall ereignete sich am 4.1.2009, also wenige Monate vor dem Stichtag.

In diesem Fall bejaht der EGMR die Anwendbarkeit des Art. 8 EMRK, da zwischen dem Vater und der nichtehelichen Tochter ein „Familienleben“ iSd Art. 8 EMRK existierte. Schon während ihres Lebens in der DDR und erst recht, nachdem die Tochter 1984 in die Bundesrepublik ausgereist war, bestanden engere Kontakte mit dem Vater, den die Tochter auch regelmäßig besuchte. Was die Rechtfertigung der erbrechtlichen Ungleichbehandlung angeht, betont der EGMR die EMRK sei als lebendes Instrument zu betrachten, das im Lichte der heutigen Verhältnisse auszulegen sei und hob die die große Bedeutung hervor, die dem Grundsatz der Gleichberechtigung von ehelichen und nichtehelichen Kindern heute zukomme. Nur sehr gewichtige Gründe könnten heute noch eine Ungleichbehandlung aufgrund der Geburt rechtfertigen. Die vom deutschen Gesetzgeber und den deutschen Gerichten mit der erbrechtlichen Benachteiligung der „alten“ nichtehelichen Kinder verfolgten Ziele – Wahrung der Rechtssicherheit und Schutz des Erblassers und seiner Familie – erklärt der EGMR zwar an sich für legitim. Er verlangt aber, zwischen den angewendeten Mitteln und den angestrebten Zielen müsse eine vernünftige Verhältnismäßigkeit bestehen. Hierbei müsste der Schutz berechtigter Erwartungen des Erblassers und seiner Familie der Pflicht zur Gleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Kinder untergeordnet werden.

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist noch nicht rechtskräftig. Allerdings sind in Straßburg auch noch zwei ähnlich gelagerte Fälle anhängig. Es bleibt daher abzuwarten, ob der deutsche Gesetzgeber auf das Urteil mit einer erneuten Reform reagieren wird.



← zurück
Netzwerk Deutscher Testamentsvollstrecker e.V. Erbrechtsmediation Erbrechtsakademie