21.4.2005
Ältere Testamente, die durch Streichungen widerrufen worden sind, können für die Ermittlung der testamentarischen Erbfolge noch von Bedeutung sein.Testamentsauslegung anhand früherer durchgestrichener Verfügung
Der Erblasser setzte in einem früheren Testament seine Ehefrau als Alleinerbin ein. Später hatte er den Text diagonal und seine Unterschrift mehrfach waagrecht durchgestrichen. In einer neueren Verfügung hatte der Erblasser keine Regelung zur Erbeinsetzung getroffen und vermerkt, dass er das Testament noch vervollständigen werde, dies dann aber doch unterlassen. Im Erbscheinsverfahren war zu klären, ob die Ehefrau Alleinerbin geworden ist oder gesetzliche Erbfolge gilt.
Nach § 2255 S. 1 BGB kann ein Testament auch dadurch widerrufen werden, dass der Erblasser in Aufhebungsabsicht Veränderungen vornimmt, etwa indem er den Text durchstreicht. In diesem Fall ist ein entsprechender Aufhebungswille zu vermuten (§ 2255 S. 2 BGB).
Allerdings muss das Durchstreichen des Textes nicht in jedem Fall eine unbedingte Widerrufsabsicht ausdrücken. Vielmehr kann es auch dem Willen des Erblassers entsprechen, dass der durch diese Veränderung nahe gelegte Widerruf der Verfügung erst mit der Errichtung des neuen Testaments gelten soll. So kann es insbesondere liegen, wenn die Veränderung aus der Sicht des Erblassers lediglich der Vorbereitung eines neuen Testaments dient, in dem er die durchgestrichenen Verfügungen inhaltlich aufrechterhalten will (BayObLG, NJW-RR 1997, 1302). Streicht der Erblasser aber – wie hier – den Text des Testaments und zusätzlich seine Unterschrift komplett durch, ist die gesetzliche Vermutung nicht widerlegt und damit das Testament widerrufen.
Das widerrufene Testament kann jedoch zur Auslegung eines späteren, unvollständig gebliebenen Testaments herangezogen werden, da neben dem Inhalt der Testamentsurkunde alle Umstände, auch solche außerhalb des Testaments, heranzuziehen und zu würdigen sind. Dazu gehört auch der Inhalt früher errichteter, widerrufener Testamente (BayObLGZ 1982, 159). Aus dem Umstand, dass der Erblasser das durch Streichung unwirksam gemachte frühere Testament in einem gemeinsamen Umschlag mit der neuen Verfügung verschlossen und aufbewahrt hat, entnimmt das BayObLG, dass der gestrichene Text der aufgehobenen Verfügung, also die Alleinerbeneinsetzung der Ehefrau, eine verbliebene Lücke im späteren Testament schließen sollte.
Praxishinweis: Der Fall zeigt, dass der Berater immer auch widerrufene oder vernichtete Verfügungen bei der Auslegung eines Testamentes berücksichtigen muss.
BayObLG, Beschluss vom 1.12.2004 – 1 Z BR 93/04 = NJW-RR 2005, 525← zurück