Testamentsauslegung
Erbeinsetzung entfernter Verwandter - Ersatzerbfolge oder Anwachsung bei Wegfall?
Häufig setzen spätere Erblasser in ihrem Testament Kinder, entfernte Verwandte oder sonstige Dritte zu Erben ein, ohne zu bedenken oder zu regeln, wer Erbe werden soll, wenn die bedachte Person vor Eintritt des Erbfalls wegfallen sollte.
Das OLG München hatte sich bei seiner Entscheidung vom 11.06.18 (31 Wx 294/16) mit einem solchen Fall zu befassen, in dem entfernte Verwandte der Seitenlinie zu Erben berufen waren. Dabei hatte es im Wege der Testamentsauslegung drei interessante Fragen zu beantworten:
- Kann die Erbeinsetzung entfernter Verwandter in einem Ehegattentestament wechselbezüglich und damit bindend sein?
- Wann ist anzunehmen, dass der Abkömmling eines eingesetzten, aber weggefallenen entfernten Verwandten Ersatzerbe sein oder der Nachlass den übrigen Verwandten anwachsen soll?
- Ergibt die ergänzende Auslegung eine Ersatzerbenberufung der Abkömmlinge des weggefallenen Verwandten, ist diese dann ebenfalls wechselbezüglich und bindend?
Ausgangslage:
Der Erblasser und seine 20 Jahre zuvor verstorbene Ehefrau hatten in einem gemeinschaftlichen Testament zunächst einander zu Alleinerben und sodann zwei Cousinen der Ehefrau und eine Nichte des Erblassers (mit unterschiedlichen Quoten) zu Schlusserben des Längerlebenden eingesetzt. Die Ehe war kinderlos geblieben.
Eine eingesetzte Cousine war vor, eine nach dem Erblasser verstorben. Beide hinterließen je zwei Abkömmlinge.
Später heiratete der Erblasser erneut und setzte in einem notariellen Testament seine zweite Ehefrau zu seiner Alleinerbin ein.
Nach dem Tod des Erblassers stritten sämtliche Beteiligten um ihre Beteiligung am nicht unbeträchtlichen Nachlass.
Wechselbezüglichkeit der Erbeinsetzung entfernter Verwandter?
Nachdem das OLG München zunächst die Begünstigungen in dem Verteilungstestament als Erbeinsetzungen ausgelegt hatte, bejahte es die Wechselbezüglichkeit der Erbeinsetzungen der Cousinen durch die vorverstorbene erste Ehefrau des Erblassers.
Wechselbezüglich und damit für den überlebenden Ehegatten bindend sind in einem gemeinschaftlichen Testament getroffene Verfügungen, wenn anzunehmen ist, dass die Verfügung des einen Ehegatten nicht ohne die Verfügung des anderen Ehegatten getroffen worden wäre, sie also nach dem Willen der Eheleute miteinander stehen oder fallen sollen (§ 2270 Abs. 1 BGB).
Enthält ein gemeinschaftliches Testament keine klare und eindeutige Anordnung zur Wechselbezüglichkeit, muss diese nach den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen ermittelt werden (BGH NJW-RR 1987, 1410).
Cousinen der Ehefrau:
Für die Richter des OLG München sprach für Wechselbezüglichkeit der Schlusserbeneinsetzungen der Cousinen zur Alleinerbeinsetzung des Erblassers hier der Umstand, dass das umfangreiche Immobilienvermögen aus dem Vermögen der Familie der vorverstorbenen Ehefrau stammte und diese „erkennbar [?] ein erhebliches Interesse daran hatte“, das Immobilienvermögen „nach ihrem Tod in dieser Familie verbleiben zu lassen“. Deshalb, so das OLG, „liegt es nahe, dass die vorverstorbene Ehefrau (…) sicherstellen wollte, dass nach [dem Tod des Ehemanns] das Vermögen überwiegend in ihrer Familie bleibt.“
Die Erbeinsetzung der zweiten Ehefrau war somit unwirksam, soweit diese die Rechte der Cousinen beeinträchtigte (§ 2289 Abs. 1 S. 2 BGB analog).
Nichte des Ehemanns:
Hinsichtlich der Nichte des Ehemanns verneint das OLG München dagegen eine Wechselbezüglichkeit, so dass der Ehemann diese Verfügung aufheben und seine zweite Ehefrau entsprechend einsetzen konnte.
Maßgeblich, so das OLG, sei insoweit, dass die „Nichte selbst mit dem Erblasser verwandt ist und es nicht naheliegend erscheint, dass die vorverstorbene Ehefrau des Erblassers ein Interesse daran hatte, dass eine Verwandte ihres Mannes eine nicht mehr zu entziehende Rechtsposition an Grundvermögen erlangt, das aus der Familie der Ehefrau stammt.“ Entsprechende Anhaltspunkte fänden sich nicht in der Testamentsurkunde.
Kritik des Erbrechtsexperten Ingo Lahn:
Diese Auslegung überzeugt in dem entschiedenen Fall nicht.
Gerade bei kinderlosen Eheleuten ist hinsichtlich der Wechselbezüglichkeit sorgfältig zu prüfen, ob der Erstversterbende wirklich das Sicherungsinteresse des Schlusserben über das Recht des Längerlebenden zur völlig freien Verfügung über das beiderseitige Vermögen stellen wollte und dieser die Erklärungen des anderen auch so verstanden hat (BeckOK BGB/Litzenburger,§ 2270 Rn. 18).
Wenn das OLG bei den Cousinen die Wechselbezüglichkeit bejaht, weil es nahe liege, „dass die vorverstorbene Ehefrau (…) sicherstellen wollte, dass nach [dem Tod des Ehemanns] das [aus der Familie der Ehefrau stammende] Vermögen überwiegend in ihrer Familie bleibt“, dann leuchtet es überhaupt nicht ein, ein Sicherungsinteresse bezüglich der Nichte, die von der Ehefrau immerhin zur Schlusserbin über einen Anteil von wirtschaftlich rd. 26,6% ihres Immobilienvermögens eingesetzt wurde, zu verneinen, nur weil sie eine Verwandte des Ehemanns ist.
Gerade, wenn es sich nicht um beiderseitiges, sondern einseitiges Vermögen handelt, dürfte ein mutmaßlicher Wille des vermögenden Erblassers fernliegen, das Vermögen oder Teile hiervon in die freie, nicht auf gemeinsamer Nachlassplanung beruhende Verfügung zugunsten familienfremder Dritter oder gar neuer Ehepartner zu überantworten.
Ersatzerbfolge der Abkömmlinge entfernter Verwandter oder Anwachsung?
Wegen der Abkömmlinge der vorverstorbenen Cousine war sodann darüber zu befinden, ob diese an die Stelle der Cousine getreten sind.
Fällt nämlich ein testamentarisch eingesetzter Erbe vor dem Erbfall weg, wächst dessen Erbteil den übrigen Erben nach dem Verhältnis ihrer Erbteile an (§ 2094 Abs. 1 S. 1 BGB), wenn nicht der Erblasser für diesen Fall einen Ersatzerben eingesetzt hat (§ 2096 BGB). Das Recht des Ersatzerben geht dem Anwachsungsrecht vor (§ 2099 BGB).
Eine ausdrückliche Ersatzerbenregelung fand sich in dem Testament nicht.
Eine § 2069 BGB entsprechende Auslegungsregel, wonach im Zweifel Abkömmlinge von bedachten, aber weggefallenen Abkömmlingen als Ersatzerben bedacht anzusehen sind, gibt es für Verwandte der Seitenlinie oder sonstige Dritte nicht. Eine analoge Anwendung ist nach h.M. ausgeschlossen.
Daher war der hypothetische Erblasserwille zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung durch ergänzende Auslegung zu ermitteln (vgl. zur "ergänzenden Auslegung" meine Entscheidungsrezension vom 18.10.17).
Nachdem das OLG München eine planwidrige Regelungslücke festgestellt (besser: unterstellt) hatte, bejaht es den Willen der Erblasserin, die Abkömmlinge der Cousine zu Ersatzerben berufen zu wollen:
Eine ergänzende Auslegung gemäß dem Rechtsgedanken des § 2069 BGB erfordert neben der Stellung als Abkömmling zusätzlich, dass sich aus sonstigen letztwilligen Bestimmungen oder auch außerhalb des Testaments liegenden Umständen ergibt, dass der Erblasser den bedachten, aber weggefallenen Erben
- als Repräsentant seines Stammes (dann Ersatzerbschaft) und
- nicht nur aufgrund persönlicher Verbundenheit bedacht hat (dann Anwachsung).
Gleichbehandlung der Stammesrepräsentanten nicht zwingend erforderlich
Ein starkes Indiz dafür, dass weniger die Personen als solche als vielmehr die jeweiligen Stämme bedacht werden sollten, könne, so das OLG, darin liegen, dass die Verwandten – wie bei der gesetzlichen Erbfolge – gleichmäßig bedacht werden, der Erblasser sich also mehr vom formalen Kriterium der Gleichbehandlung leiten lässt (so noch OLG München, Beschl. v. 26.04.17, 31 Wx 378/16, ZEV 2017, 353), als davon, zu wem er ein gutes oder weniger gutes Verhältnis hat.
Vorliegend waren die Cousinen aber nicht gleichmäßig bedacht (die eine wertmäßig zu 1/3, die andere zu 2/5).
In einem vergleichbaren Fall hatte das OLG Düsseldorf (Beschl. v. 8.11.2017, I-3 Wx 295/16) eine Ersatzerbfolge verneint und Anwachsung angenommen.
Ohne dies im Leitsatz ausdrücklich zu erwähnen, hält das OLG München eine solche Gleichbehandlung aber offenbar nicht für entscheidend.
Es meint trotz der fehlenden Gleichbehandlung, dass aus dem Testament der Wille der Ehefrau hervorginge, dass das aus ihrer Familie stammende Immobilienvermögen auf die übrigen Stämme der Familie ausdrücklich nach bestimmten Brüchen aufgeteilt werden und dort verbleiben solle. Gegen eine Anwachsung spräche, dass eine Konzentration des Vermögens in einem der beiden Stämme nicht gewollt war.
Wechselbezüglichkeit der Ersatzerbeinsetzung?
Nach einer Entscheidung des BGH vom 16.01.2002 (IV ZB 20/01) ist die Auslegungsregel des § 2270 Abs. 2 BGB zur Wechselbezüglichkeit auf Ersatzerben nur dann anwendbar, wenn sich Anhaltspunkte für einen auf deren Einsetzung gerichteten Willen der Testierenden feststellen lassen, die Ersatzerbeinsetzung also nicht allein auf § 2069 BGB beruht.
Bei der Entscheidung des OLG München handelte es sich jedoch um keinen Fall unzulässig kumulierter Anwendung zweier Auslegungsregelungen:
Die Wechselbezüglichkeit beruhte nicht auf der Auslegungsregel des § 2270 Abs. 2 BGB, sondern auf einfacher Auslegung, und die Ersatzerbfolge nicht auf der Auslegungsregel des § 2069 BGB, sondern auf ergänzender Auslegung.
So konnte sich das OLG zur Begründung der Wechselbezüglichkeit der Ersatzerbfolge damit begnügen, im Wesentlichen auf die Begründung zur Wechselbezüglichkeit der Erbeinsetzung der vorverstorbenen Mutter der Ersatzerben zu verweisen.
Hinweis von Fachanwalt für Erbrecht Ingo Lahn, Hilden:
Nach der vorstehend besprochenen Entscheidung des OLG München und den weiter zitierten Entscheidungen kann Testierenden nur dringend angeraten werden: Ordnen Sie die Ersatzberufung von Verwandten oder Dritten ausdrücklich an!
Dazu bedarf es keiner namentlichen Nennung, um nicht Gefahr zu laufen, abschließende, noch nicht Bekannte ausschließende Bestimmungen zu treffen.
Bei Abkömmlingen reicht etwa die Formulierung:
„Als Schlusserben berufen wir unsere Kinder, ersatzweise deren Abkömmlinge, soweit sie bei gesetzlicher Erbfolge an ihre Stelle treten würden.”
Die besprochene Entscheidung des OLG München hätte vor einem anderen Gericht auch anders ausgehen können, insbesondere hinsichtlich der Nichte.
Je genauer Sie Ihren letzten Willen formulieren, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass zeitraubend und kostenintensiv über Ihren Willen gestritten wird.
Lassen Sie Ihr Testament von einem Fachanwalt für Erbrecht überprüfen - am besten gar direkt gestalten!
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